Als ich vor langer Zeit anfing, Vorträge auf Perform-Better-Veranstaltungen zu halten, hielt ich es für sehr wichtig, über übergeordnete Bewegungsmuster zu sprechen, weil die meisten Fragen um Übungen und Übungsprogressionen kreisten, ohne sich zuvor damit befasst zu haben, was die Übung an der Bewegung überhaupt verändern soll. Training diente der Muskelentwicklung, war eine Art angewandte Kinesiologie. Wir sprachen aber nicht darüber, wie sich Bewegungsmuster durch bestimmte Übungen beeinflussen lassen. Wir erkannten nicht, dass in dem Augenblick, in dem wir eine Übung abschließen, unser Gehirn (hoffentlich) die Möglichkeit hat, den eben eingespeisten Input zu verarbeiten und beim nächsten Mal in die Tat zu setzen.
Kraftzuwachs ist zunächst neuronalen Faktoren zuzuschreiben. Das heißt, dass sich bei der Ausführung einer neuen Übung zunächst nicht das Muskelgewebe verändert, sondern vielmehr das Nervensystem effizienter arbeitet. Wir nennen das motorische Kontrolle. Motorische Kontrolle ist im Grunde dasselbe wie Timing, Stabilisierung und Koordination, die zusammengenommen eine Verbesserung der Fähigkeiten herbeiführt.
Fast jede Bewegung, die man ausführt, hat Verbesserungspotenzial
Wenn man eine bestimmte Bewegung beherrscht, ist das Verbesserungspotenzial sehr gering, aber wenn man sich eine Bewegung gerade erst aneignet oder richtig ausführen lernt, ist das Verbesserungspotenzial sehr groß. Die meisten Verbesserungen unserer Ausdauer und Kraft sind nicht auf Muskelgröße, Hypertrophie oder eine optimierte Energiebereitstellung zurückzuführen. Wir verbessern unsere konditionellen Fähigkeiten, weil wir effizienter werden.
Bei meiner ersten Teilnahme an der Perform-Better-Vortragsreihe wollte ich zeigen, wie sich Bewegung deutlich schneller verändern lässt als ursprünglich gedacht. Ich beendete in dieser Anfangsphase viele Präsentationen damit, dass ich einen Zuschauer auf die Bühne bat, der seine Zehen nicht berühren konnte, wenn er eine Rumpfbeuge vorwärts machte. Natürlich bat ich niemanden auf die Bühne, dem diese Bewegung Schmerzen bereitete. Ich wollte nicht den Eindruck einer Spontanheilung erwecken und rate auch niemandem dazu.
Wenn jemand aber steif und unbeweglich ist und deshalb seine Zehen nicht berühren kann, liegt das in der Regel an einem dysfunktionalen Bewegungsmuster. Das war die Zielgruppe, die ich auf die Bühne bat, um in aller Kürze einige Techniken zu demonstrieren.
Es handelte sich dabei nicht um Dehnübungen. Ich musste den Freiwilligen auch nicht anfassen oder in irgendeiner Form sein Weichgewebe mobilisieren. Die Techniken sorgten einfach dafür, dass sein Nervensystem beim Toe Touch nicht die Bremse zog.
Die meisten Leute, deren hintere Kette unter einer unverhältnismäßig hohen Spannung steht, haben tatsächlich das Gefühl, sich mit angezogener Bremse zu bewegen. Das hat mehrere Gründe.
- Die Lendenwirbelsäule und das Becken könnten asynchron arbeiten – die Flexion muss von den Hüften und dem Becken ausgehen, erst dann folgt die Wirbelsäule.
- Sie fühlen sich vielleicht bei der Rückverlagerung des Gewichts unwohl, die erforderlich ist, wenn man die Hüften nach hinten und der Rumpf nach vorne bringt.
- Sie sind es vielleicht nicht gewohnt, die Lendenwirbelsäule im Einklang mit den Hüften zu bewegen.
Als ich anfing, die Toe-Touch-Progression und einige andere Techniken durchzugehen, mit denen sich der Toe Touch in weniger als einer Minute verbessern ließ, begann das Publikum zu verstehen, dass ich nicht versuchte, die Muskellänge oder die Core-Stabilität zu verändern. Ich gab dem Gehirn der Testperson einfach die Möglichkeit, ein effizienteres Muster anzuwenden.
Wenn ein körperliches Problem besteht, wird es dadurch verschärft, dass das Gehirn nicht zu seiner Lösung beiträgt
Das Problem könnte auf eine ältere Verletzung zurückzuführen sein, die nie vollständig verheilt ist, schlechte Gewohnheiten, eine zu intensive Beschäftigung mit der vorderen Kette bei gleichzeitiger Vernachlässigung der hinteren Kette, oder auf ein Training, das nicht über den vollen Bewegungsumfang geht. Alles das kann die natürliche Fähigkeit einschränken, bei einem Toe Touch die Zehen zu berühren.
Viele Sportler, die wir trainieren, können sich nicht angemessen bewegen. Eine Korrekturstrategie muss keine Schmerzen verursachen und kann schnell gehen, wenn man sie korrekt anwendet. Als unsere Leute mit dem Toe Touch anfingen, stellte er eine gute Ausgangsbasis für den Functional Movement Screen dar. Leider gerieten die Dinge dann ein wenig außer Kontrolle. Viele schenkten plötzlich dem Volumen und weniger der Qualität der Korrekturübungen zu große Beachtung.
Ich verfolgte den genau entgegengesetzten Ansatz. Ich hatte es geschafft, den Toe Touch einer Testperson in wenigen Minuten zu verändern. Im Anschluss daran wollte ich einige Übungen durchgehen, die den Toe Touch nicht verschlechtern sollten; das konnte ich überprüfen, indem ich die Baseline neu testete. Ich wollte, dass die Korrekturübungen dazu führten, dass die Person den neuen Bewegungsumfang nutzte und dadurch ihre Stabilität verbesserte. Wie gesagt, die Dinge gerieten außer Kontrolle, und es wurden Fehler gemacht.
Viele steigerten sich in die Korrekturstrategie hinein und vergaßen, dass sie eigentlich nur dem Zweck diente, sie zu ihrer alten Leistung und einem regelmäßigen Training zu verhelfen, das sie ultimativ gesünder und widerstandsfähiger machen würde. So können wir unserem tendenziell untätigen Lebensstil entgegenwirken und ein Ventil für die Spannung finden, die wir in unserem Körper aufstauen.
Wenn Korrekturstrategien von einem Experten geübt werden, ist das eine kurzfristige Abweichung und kein sechsmonatiges Programm. Deswegen können manche Personen aber trotzdem körperlich so dysfunktional oder angeschlagen sein, dass sie umfangreichere Korrekturstrategien brauchen, aber hoffentlich wissen wir dann genau, was die Ursache ihres Problems ist. Vielleicht unterhalten wir uns mit ihrem Arzt, Physiotherapeuten, Chiropraktiker oder anderen behandelnden Fachmann, der helfen kann, wenn eine dauerhafte Einschränkung oder Behinderung vorliegt. Bei diesen Menschen macht eine längere Korrekturstrategie durchaus Sinn. Sonst wäre es vermutlich besser, zunächst eine brauchbare Korrekturstrategie einzuführen, die wir dann zu gegebener Zeit durch ein funktionelles Programm ersetzen.
Ein anderes Missverständnis ist, dass der Toe Touch schädlich ist
Wir sollen den Rücken nicht rund machen; Wirbelsäulenflexion ist schlecht – zumindest denken die meisten das. Ich habe eine ganz eigene Meinung dazu.
Wirbelsäulenflexion ist an und für sich nicht schlecht – unter Last allerdings schon. Wir beugen die Wirbelsäule ständig. Ein Baseball-Pitcher beugt seine Wirbelsäule, wenn er nach dem Wurf nachhält. Ein Stabhochspringer beugt und streckt seinen Rücken, wenn er die Sprunglatte überwindet. Sprinter beugen die Wirbelsäule in der Startposition. Jockeys und Radfahrer beugen die Wirbelsäule, um eine aerodynamische Haltung einzunehmen.
Wenn wir schwere Lasten heben, drücken, ziehen oder andere ballistische oder plyometrische Aktivitäten ausführen, ist es allerdings besser, die Wirbelsäule stabil zu halten. Wir erreichen das nicht mittels Steifheit, sondern mittels motorischer Kontrolle bzw. Reflexstabilisation.
Reflexstabilisation heißt nicht, dass der unter Last befindliche Rücken in einer steifen und gestreckten Position gefangen ist und ständig bereit sein muss, eine Kniebeuge zu machen. Die besten Wirbelsäulen bewegen sich bzw. sind stabil, wenn sie es müssen, wodurch sie das höchste Maß an motorischer Kontrolle demonstrieren: Anpassungsfähigkeit.
Dann fingen die Leute an, eine Regel zu zitieren, die allerdings missverstanden wurde: „Sollten wir nicht zuerst auf Stabilität und dann auf Mobilität achten?“Die Antwort ist ein klares Nein. Das bricht alle Naturgesetze. Stabilität kommt nach Mobilität, aber vor Bewegung.
Die Regel sollte also lauten: Wir sollten zuerst auf Stabilität und dann auf Bewegung achten, aber im Laufe der Zeit wurde das Wort „Bewegung“ durch „Mobilität“ ersetzt. Mobilität beschreibt die verfügbare Bewegung innerhalb normaler Grenzen, das Potenzial sich zu bewegen, ganz ohne Einschränkungen. Wenn keine Einschränkung vorliegt und wir die Fähigkeit haben, uns zu stabilisieren, können wir unsere Bewegung automatisch kontrollieren. Sobald wir unsere Bewegung kontrollieren, sollten wir nach Gelegenheiten suchen, das auch zu tun.
Die Regel lautet: Mobilität vor Stabilität, Stabilität vor Bewegung; Bewegung vor Kraft
Deswegen ist der Functional Movement Screen kein Leistungsmaß. Er besteht aus Tests zur Untersuchung a) der symmetrischen Mobilität (aktives Beinheben und Schultermobilität), b) der geringen motorischen Kontrolle und Stabilität (Rotationsstabilität) und c) der hohen motorischen Kontrolle und Stabilität (Liegestützmuster), lange bevor ein aufrechter Stand eingenommen wird, um eine geschlossenkettige Bewegung auszuführen, das heißt: den Ausfallschritt, Hürdenschritt und die Kniebeuge.
Wir sehen uns also das Beinheben, die Schultermobilität, Rotationsstabilität und das Liegestützmuster an, bevor wir uns Gedanken über Ausfallschritte, Hürdenschritte oder Kniebeugen machen.
Die Regel ist in den Function Movement Screen eingebettet. Sollte sie unklar sein, nehme ich die Schuld auf mich und formuliere meine Meinung deutlicher.
Was meint Gray also wenn er sagt: „Wenn du deine Zehen nicht berühren kannst, sind Deadlifts für dich tabu?“
Wollen wir sehen, ob wir diese Lektion anwenden können.
Ich arbeite oft mit Athleten und Patienten zusammen, die unter Rückenschmerzen leiden. Ihnen werden normalerweise Rumpfstabilisationsübungen verordnet, ohne dass jemand zuvor ihre Bewegungsfähigkeit untersucht hat. Wie aber können wir die Stabilität untersuchen, wenn keine Mobilität vorliegt? Wir könnten es ja auch mit Steifheit zu tun haben. Wenn wir dich darum bitten, eine Position zu halten und du steckst fest, hältst du die Position dann wirklich oder ist nicht vielmehr deine Steifheit dafür verantwortlich? Vielleicht ist ein übermäßig hoher Muskeltonus der Stabilisatoren für das Problem verantwortlich?
Wenn ich jemanden evaluiere, sind die grundlegenden motorischen Muster, die ich betrachte, das Beinheben und der Toe Touch. Wenn das Beinheben normal ist, der Toe Touch aber anormal, muss etwas passieren, das dafür sorgt, dass im Stehen nicht der vollen Bewegungsumfang genutzt werden kann. Wenn beiden Bewegungen eingeschränkt sind, hat die Einschränkung nichts damit zu tun, ob man unter Last steht oder nicht. Es ist in jedem Fall extrem wichtig, einen normalen Toe Touch zu schaffen, bevor man sich dem Hip Hinge, Deadlift, Swing oder Squat zuwendet.
Ein Hip Hinge schont die Wirbelsäule und aktiviert die Hüften, damit diese die dynamische Arbeit erledigen. Die Wirbelsäule überträgt die Energie statisch, ohne Bewegung, auf den Oberkörper. Die Wirbelsäule kann nur stabil sein, wenn die Hüften mobil sind. Umgekehrt gilt: Wenn die Hüften nicht mobil sind, kann die Wirbelsäule nicht stabil sein. Es gibt aber noch eine andere Zutat. Die Wirbelsäule muss auch mobil sein, damit sie merkt, wenn sie in einer ungünstigen Position ist, weil sie sich nur so anpassen kann.
Wenn wir die Mobilität der Körpersegmente verbessern, verbessern wir die Propriozeption in diesem Bereich
Die tiefen Multifidi, die sich über die gesamte Wirbelsäule erstrecken, besitzen viele Muskelspindeln, die sie zu hervorragenden sensorischen Organen machen, da sie nah am Gelenk sind. Dadurch übermitteln sie dem Gehirn Informationen über kleinste Veränderungen der Wirbelsäule, auf die die großen Muskeln – wie etwa die schrägen Bauchmuskeln und Rückenstrecker – mit größeren Hebelarmen reagieren können.
Normalerweise sehe ich bei diesen Patienten, dass sie die Zehen nicht berühren können, weil ihre Wirbelsäule und Hüften zu steif und unbeweglich sind. Wenn ich dieselben Patienten in eine Deadlift-Position bringe, selbst wenn die Hantel leicht ist, machen sie zuerst den Rücken rund. Sie machen eher den Rücken rund als mit den Hüften zu arbeiten, weil sie das schon lange nicht mehr gemacht haben. Diese Option ist nicht verfügbar, und leider ist sie ihnen auch nicht mehr richtig bewusst.
Andere Menschen wiederum machen beim Toe Touch nur ungern den Rücken rund. Dafür machen sie beim Deadlift den Rücken rund und belasten die Hüften ungünstig. Sie machen also die Wirbelsäule rund, wenn sie es nicht sollen, und halten den Rücken – bewusst oder unbewusst – steif, wenn sie ihre Zehen zu berühren versuchen.
Wir wollen nun den Spieß umdrehen und es ihnen möglich machen, die Wirbelsäule zu biegen, zu drehen, zu wenden und zu beugen, wenn sie sich dreidimensional im Raum bewegen. So erhält die Wirbelsäule mehr Input und sensorische Informationen. Diese Bewegung regt die Aktivität der Mechanorezeptoren an.
Die Mechanorezeptoren nehmen die äußere Umgebung und Lasten immer präziser wahr, also dient der Toe Touch der Mobilität der Wirbelsäule. Dann coachen wir die Wirbelsäulenstabilität und ermöglichen ihr, bei Bewegungen wie dem Deadlift ganz automatisch aufzutreten.
Die größte Fehlannahme ist, dass ich dazu rate, die Wirbelsäule unter Last rund zu machen. Noch einmal: Es gibt einige Leute, die lieber eiserne Regeln befolgen, als eigenständig zu denken.
Es ist völlig in Ordnung, die Wirbelsäule beim Toe Touch rund zu machen
Beim Deadlift ist das allerdings hochriskant. Wenn man bei einem Toe Touch die Wirbelsäule nicht rund macht, deutet das auf eine signifikante Dysfunktion hin, weil die normale Gewichtsverlagerung, Körpermechanik und Ausrichtung verzerrt worden ist.
Indem wir dieses Problem thematisieren, setzen wir den Toe Touch zurück, um bessere Voraussetzungen für die Vermittlung des Deadlifts zu schaffen.
Bevor du darüber nachdenkst, was du davon halten sollst, solltest du dir aber darüber im Klaren sein, dass das nur meine Meinung ist. Diese basiert aber auf über 20 Jahren Arbeit an und mit dieser Situation. Ich sage nicht, dass du die nächsten 20 Jahre damit zubringen musst, alle Varianten dieses Szenarios durchzuspielen, aber du solltest es dir zumindest ansehen.
Suche dir niemanden mit Rückenschmerzen aus. Suche dir vielmehr jemanden aus, der dir keinen sauberen Toe Touch zeigen kann. Zeige ihm die richtige Deadlift-Technik und beobachte, was passiert. Dann tu alles, was in deiner Macht steht, um dieser Person zum Toe Touch zu verhelfen.
Wenn du nicht weißt, wie das geht, können wir dir einige Anregungen geben. Am besten fängst du mit dem Functional Movement Screen an, weil es viele Gründe dafür geben kann, warum jemand beim Toe Touch scheitert. Sie dir das Übungsverzeichnis auf www.functionalmovement.com an, um mehr über unsere Vorschläge für die meisten dieser Gründe zu erfahren.
Du solltest auf jeden Fall jemandem den Deadlift beibringen, ohne zuvor seinen Toe Touch bereinigt zu haben. Dann solltest du jemandem den Deadlift beibringen, nachdem du seinen Toe Touch bereinigt hast. Lass ihn ein paar Wiederholungen machen, bevor du etwas sagst. Ich denke, du wirst überrascht sein.
Euer Gray Cook
The post Was hat es mit dem Toe Touch auf sich? appeared first on Functional Training Magazin.