Die Sequenz, die wir zum Ausrichten und Stabilisieren der Wirbelsäule einsetzen, ist sehr einfach und universell
Wir trainieren sie sogar mit Profi-Pitchern, Lineback-Spielern, Golfern und Balletttänzern. Mit nur wenig Übung gelingt sie dir bald in wenigen Sekunden oder noch schneller. Das Schwierige ist, sich daran zu gewöhnen. Wie bei allem im Leben macht auch hier die Übung den Meister.
In unserer schreibtischorientierten Welt sitzt, steht und bewegt sich die Mehrheit von uns seit langer Zeit nicht optimal. Glücklicherweise können wir aber alle neue Dinge lernen, insbesondere, wenn sie in unserer DNA verankert liegen. Es wird sicher nicht so einfach sein, wie die alten Gewohnheiten beizubehalten, und höchstwahrscheinlich rotiert dein Hirn, wenn du versuchst, dich an die Abfolgen zu gewöhnen und die jahrelangen ineffizienten Haltungen auszumerzen. Bevor die neuen Haltungen natürlich geworden und fest verwurzelt sind, können einige Wochen dauernden Überprüfens ins Land gehen. Das ist in Ordnung. Zu lernen, wie man sich gut bewegt, ist eine Fertigkeit, bei der man nie auslernt, die man aber immer weiter verfeinert. Aber wie beim Jonglieren bleibt einem diese Fertigkeit, wenn man sie einmal beherrscht.
Es sind zwar nur vier Schritte, doch passiert einiges, wenn du deine Wirbelsäulenhaltung neu aufbaust. Du musst Becken, Brustkorb und Kopf zurück in Reihe schalten und diese Haltung mit der Rumpfmuskulatur stabilisieren; du musst Schultern und Hüften so ausrichten, dass das Gesamtsystem auch diagonal stabil ist. Glaube mir , dass Idir das mit etwas Übung sehr natürlich erscheinen wird. Wir haben diese Sequenz bereits Zehntausenden von Kindern und Erwachsenen beigebracht.
Wie bei jeder schwierigen Aufgabe ist es wichtig, in kleinen Schritten vorzugehen. Bevor du lernst, unser Verankerungsmodell im Stand umzusetzen, streichen wir daher erst die Schwerkraft aus der Gleichung und richten die Wirbelsäule im Liegen aus.
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Der Grund dafür, im Liegen zu beginnen, ist einfach
Der Prozess wird dadurch weniger komplex. Im Stand musst du mit mehreren gegen die Schwerkraft arbeitenden Kräften kämpfen, um aufrecht zu bleiben. Ursprünglich willst du zwar die Neutralstellung finden, doch deine vertrauten Körpermuster tun, was sie immer tun – sie ziehen dich in die Position zurück, die du nur zu gut kennst. In Rückenlage auf dem Boden zu arbeiten minimiert die zusätzliche Belastung für die Wirbelsäule. Brustkorb, Kopf und Schultern gehen automatisch in eine neutrale Haltung, da der Boden bei der Ausrichtung hilft.
Bist du bereit für einen Versuch? Lege dich in Rückenlage auf den Boden, die Handflächen zeigen nach oben (wer Yoga macht, kennt dies als Shavasana-Pose). Wenn du nicht verletzt bist, ist diese Stellung vielleicht einige Minuten gemütlich. Den meisten fällt es jedoch schwer, die Position länger zu halten, insbesondere auf einem harten Untergrund. Ohne Spannung im Körper auf einer harten, flachen Oberfläche zu liegen bringt den Körper oft in leichte Überstreckung, was manchmal Schmerzen im unteren Rücken oder Unbehagen hervorruft. Viele Menschen tendieren daher dazu, im Liegen die Beine überzuschlagen. Für diese Übung ist es jedoch wichtig, die Beine nicht überzuschlagen.
Als ersten Schritt der Sequenz spannst du einfach die Gesäßmuskeln an. Du musst dabei nicht in die Vollen gehen; drei Viertel deiner maximal möglichen Anstrengung sind ausreichend. Die Kontraktion muss stark genug sein, um das nach hinten gekippte Becken leicht zum Brustkorb aufzuziehen. Nach ein paar Momenten in dieser Stellung solltest du merken, wie sich das Gewebe im unteren Rücken löst und wie die Anspannung dieser Körperregion nachlässt.
Durch das Anspannen (Zusammendrücken) der Gesäßmuskeln hast du gerade das Verhältnis zwischen Becken und Lendenwirbelsäule neu ausgerichtet. Der Boden ordnete automatisch Kopf, Schultern und Brustkorb besser übereinander aus, und die Gesäßkontraktion zog das Becken in eine natürlicherweise besser ausgerichtete Haltung. Herzlichen Glückwunsch! Du fandest gerade deine Neutralstellung, deinen Heimatstandort. Er balanciert den Rückenkomplex in seinem normalen, funktionellen anatomischen Verhältnis. Das Becken kippen oder eine nebulöse »perfekte« Beckenausrichtung finden musst du dabei nicht. Wir vertrauen darauf, dass deine eigene, persönliche Anatomie auf die für sie zuständige Muskulatur reagiert. Die Gesäßmuskeln sind speziell für das Becken konstruiert.
Glaube nicht, dass diese einfache Bewegung nicht ausgeklügelt genug ist, um der komplexen zugrunde liegenden Körperphysiologie gerecht zu werden. Ganz im Gegenteil. Die leistungsstarken Gesäßmuskeln zur Wirbelsäulenstabilisierung und -ausrichtung heranzuziehen ist eine bewährte Technik. »Den Po anspannen!«, rufen Gymnastiktrainer den Teilnehmern ihrer Kurse zu, seit es Gymnastik gibt.
Zwei weitere Gedanken:
- Keine Sorge, wenn du beim Anspannen der Gesäßmuskeln nicht spürst, dass dein Becken die Stellung wechselt: dein Becken steht bereits in guter Relation zur Lendenwirbelsäule.
- Und nein, du musst nicht den ganzen Tag wie verrückt die Gesäßmuskeln zusammenpressen. Das Anspannen richtet lediglich deine Haltung neu aus und stellt die richtige Körpergeometrie her.
Der nächste Schritt ist das Verankern oder Festmachen dieser neu gefundenen Wirbelsäulenhaltung, indem du die Rumpfmuskulatur anspannst. Bevor wir hier ins Detail gehen, müssen wir uns allerdings erst ein wenig mit deiner Atmung beschäftigen. Unter all den unglaublichen Funktionen, die unser Körper beherrscht, ist die Atmung einer der am meisten übergangenen und unterschätzten Mechanismen. Wir ließen dich gerade das Becken ausrichten, um die Basis zu schaffen, auf der wir dir erklären können, inwieweit Atmung und Wirbelsäulenstabilität Hand in Hand gehen. Denke dabei auch daran, was wir dir über die Folgen einer mangelhaften Wirbelsäulenausrichtung erzählten: Viele Funktionen der Körpergewebe werden dadurch haltungstechnisch behindert. Das gilt ganz besonders für das Zwerchfell als Herzstück unserer wunderbaren Atmungsmaschine.
Die vergessene Kunst biomechanisch guter Atmung
Atmung ist wie Bewegung angeboren und lebenswichtig. Damit gilt sie meist nicht als Fertigkeit, die entwickelt werden muss und Aufmerksamkeit benötigt. Doch genauso wie unsere Körperausrichtung im Sitzen, Stehen und Bewegen kann auch die Atmung qualitativ unterschiedlich sein – von mangelhaft bis optimal. Wir Menschen haben das Problem, dass unsere Umwelt erhebliche Kräfte auf unseren Körper ausüben kann, die zu Fehlanpassungen führen. Was die Atmung betrifft, machen die meisten von uns etwas Äquivalentes zum Fersenlauf. In unserer Arbeit sprechen wir immer zuerst die Biomechanik der Wirbelsäule an. Dies ist nicht möglich, ohne die Atmung miteinzubeziehen. Man vergisst auch nicht, dass der Kopf auf dem Hals sitzt, denn beides bildet ein verbundenes System.
Wir können dieses Verhältnis sogar noch erweitern und das zentrale Nervensystem in unsere Definition der Wirbelsäulenausrichtung aufnehmen. Die Atemtechnik – flache Halsraumatmung oder kraftvolle Zwerchfellatmung – hat Einfluss darauf, wie der Körper mit Stressfaktoren umgeht. Kurz gesagt, verändert eine mangelhafte Biomechanik der Wirbelsäule die Art und Weise, wie wir atmen.
Unser Körper interpretiert eine flache Halsraumatmung – die typischerweise bei sitzenden Menschen oder bei Sportlern auftritt, die außer Atem geraten – als Signal, dass die Stresshormonausschüttung der Kampf-oder- Flucht-Situation ausgelöst wird. Diese Fähigkeit, folgerichtig auf die Stressatmung zu reagieren, ist nützlich, wenn du noch für das Abendessen Beute schlagen oder deine Jungen vor Löwen verteidigen musst. Doch genau wie zu viel Kaffee verhindert, dass du abends abschalten und einschlafen kannst, wirkt auch das Stresssignal, das du mit deiner Halsraumatmung den ganzen Tag lang an das Gehirn sendest. Das ist eines der tieferliegenden Themen der Forschung, die Sitzen mit Schäden an unserer Physiologie in Verbindung bringt.
Der erste Schritt, um dieses Stress-Atmungsmuster zu unterbrechen, ist, das Atmungsvehikel der Wirbelsäule in eine bessere Form zu bringen. In Neutralstellung fällt es dem Körper leichter, standardmäßig seine natürliche, effiziente Atemtechnik zu verwenden.
Lege dich wie bei der vorherigen Übung auf den Rücken. Diesmal solltest du jedoch nicht die Gesäßmuskeln anspannen oder versuchen, deine Ausrichtung zu optimieren. Beuge anstatt dessen die Knie und ziehe die Fersen an die Hüften. In dieser Stellung sind die unteren Extremitäten locker, was Spannung aus Rumpf und Zwerchfell nimmt. Im Liegen muss zudem die Rumpfmuskulatur nicht den Körper gegen die Schwerkraft aufrecht halten; die Bauchatmung wird somit einfacher.
Lege nun die Hände übereinander auf den Bauch. Atme langsam und gleichmäßig durch die Nase ein und leite die Luft in den Bauch. Stelle dir vor, dass der Bauch die Hände beim Einatmen nach oben heben soll. Wenn du das richtig machst, bleibt der Brustkorb ruhig, dein Bauch schwillt an, und die Hände heben sich.
Kümmere dich nicht darum, besonders tief einzuatmen oder die ganze Luft aus den Lungen zu drücken. Atme ganz normal über die Nase und den Bauch ein und aus. Mache die Übung zwei Minuten lang. Das Ziel ist eine mühelose, bauchbasierte Atmung. Stelle dir vor, du gehst in ein Café, um dort das Verhalten der anderen Gäste zu beobachten. Achte heimlich darauf, wie die Leute atmen. Lade jeden Gast auf einen Latte macchiato ein, wenn du nur einen siehst, der das Zwerchfell zur Bauchatmung einsetzt. Keine Angst, das passiert bestimmt nicht. Im Sitzen sucht unsere natürliche Atmung meist das Weite. Das wahre Problem an dieser fehlenden Atemstrategie ist, dass damit die meisten unserer 20.000 Atemzüge täglich dysfunktional werden.
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Die bauchbasierte Atmung mit dem Zwerchfell ist die Atemtechnik, die du im Ruhezustand und während deiner alltäglichen Verrichtungen anwenden solltest. Es sichert den Zugang zu Ihrem parasympathischen Nervensystem, das der Gegenspieler zum sympathischen Kampf-oder-Flucht-System ist. Hast du dich schon einmal gewundert, warum man in stressigen Situationen oft aufgefordert wird, »ganz tief durchzuatmen«? Richtig: Tiefenatmung oder Bauchatmung ist die direkte Abkürzung zur Fähigkeit, den Stresspegel herabzusenken und zu entspannen. Außer bei anstrengenden Tätigkeiten wie Laufen oder Gewichtheben solltest du die meiste Zeit durch Nase und Bauch ein- und ausatmen.
Warum tut die Zwerchfellatmung sonst noch gut?
Zum einen entspannt es die Hals-, Gesichts- und Kiefermuskulatur, wenn man durch die Nase atmet. Hast du dich schon gewundert, warum Lauftrainer ihre Athleten anweisen, das Gesicht zu entspannen, wenn sie sprinten und infolgedessen kräftig atmen? Dazu kommt, dass die Luftwege in der Nase viel enger sind als die des Mundraums. Nicht nur, dass du damit vermeiden kannst, als »Mundatmer« bezeichnet zu werden: Durch die Nase zu atmen erzeugt mehr Luftströmungswiderstand und regt die Zwerchfellaktivität an, was längere und tiefere Atemzüge ermöglicht.
Natürlich weiten sich beim tiefen Einatmen auch der Hals- und Brustraum, der Rücken und der Brustkorb. Wenn du beispielsweise tauchen willst, nimmst du erst über Wasser so viel Luft wie möglich auf. Du atmest dafür über den Bauch ein, weitest aber auch den Hals- und Brustraum und den Rücken, um die Lungenkapazität maximal zu nutzen. Für das alltägliche, normale Atmen denkst du dir, dass der Atem im Bauch zu fließen beginnt. Dann steigt er seitlich am Brustkorb entlang nach oben. Stelle dir vor, du wärst ein mit Creme gefüllter Doppelkeks: Beim Atmen in den seitlichen Brustkorb atmest du in die Cremefüllung zwischen den Keksen.
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Wenn du am Computer arbeitest, E-Mails beantwortest oder einfach deiner Tagesarbeit nachgehst, solltest du bauchatmen. Wenn du gestresst bist oder merkst, dass du in dein altes, ungünstiges Atemmuster zurückfällst, richte deineAufmerksamkeit auf deine Atmung. Wahrscheinlich atmest du gerade in den Brust- und Halsraum. Wenn das passiert, solltest du zwei Minuten Pause machen und die Atmung korrigieren.
Der einfachste Weg, dem Körper zu vermitteln, dass alles gut läuft und sein Überleben nicht akut bedroht ist, besteht darin, die Zwerchfellatmung zu üben. Das Beste daran ist, dass man es überall machen kann. Du musst dich dafür nicht hinlegen, obwohl du dabei angenehm entspannen und sicherstellen kannst, dass der Rücken korrekt ausgerichtet ist. Du kannst es, unbemerkt von allen, im Sitzen, im Stehen oder sogar beim Gehen üben. Lege einfach die Hand auf den Bauch und atme durch die Nase ein und aus, während du die Luft in den Bauch hinein und am seitlichen Brustkorb wieder nach oben lenkst.
Die Wirbelsäule stabilisieren (und gleichzeitig atmen)
Da du deine Wirbelsäule jetzt korrekt ausrichten kannst und weisst, wie du über das Zwerchfell atmest, stabilisierst oder verankerst du als nächsten Schritt diese Haltung. Richte das Becken wie vorher in Rückenlage durch Anspannen der Gesäßmuskeln neutral aus. Dann atme tief in den Bauch hinein. Beim Ausatmen bringst du Spannung in die Bauchmuskeln, indem du versuchst, sie auf die Wirbelsäule zu drücken – als ob du deinen Rumpf um das Rückgrat herum einschweißen wolltest. Sauge den Bauch dabei nicht ein, sodass er hohl wird. Es ist schrecklich, sich so zu bewegen, und auch langfristig unklug, insbesondere weil man auch wieder einatmen muss. »Den Bauch einziehen!« ist einer der schlechtesten Ratschläge für deine arme Wirbelsäule. Die Bauchmuskeln sollten sich aber auch nicht nach außen wölben. Stelle dir einfach vor, du würdest um die Wirbelsäule herum versteifen. Das lernst du am besten beim Ausatmen. Die Vorstellung, dabei den Bauchnabel vom Hosenbund wegzuziehen, macht deutlich, wie du die Rumpfmuskulatur korrekt in Ruhehaltung bringst.
Ein kleinerer Raum um die Wirbelsäule herum ist leichter zu stabilisieren und essenziell für gesunde Nervenfunktionen. Der höhere Druck im Bauchinnenraum durch die Stabilisierung entlastet zusätzlich die Bandscheiben, die sonst jede Last ständig aufnehmen müssen.
Der nächste Schritt in diesem Prozess ist es, die um die Wirbelsäule herum geschaffene Spannung zu dosieren. Die Rumpfmuskulatur sollte immer aktiviert sein und die Wirbelsäule stützen, wenn du aufrecht sitzt oder stehst. Du weisst bereits, dass du diesen Hauptstabilisierungsmechanismus nur abstellen darfst, wenn du dich im Sessel zurücklehnst, dich hinlegst oder schläfst. Ansonsten bekommt dein Rumpf eigentlich keine Ferien. Um dieses Konzept zu vereinfachen, empfehlen wir dir eine Standard-Arbeitsspannung von 20 Prozent.
Wie misst du 20 Prozent? Leider ist das keine genaue Wissenschaft. Der beste Weg, um die richtige Spannungsdosis zu finden, besteht darin, zuerst komplett zu entspannen – 0 Prozent. Beim Ausatmen machst du den Rumpf so steif wie möglich – 100 Prozent. Diesen Wert skalierst du nun nach bestem Wissen zurück auf 20 Prozent.
Diese Spannungsdosis lässt sich relativ gut den ganzen Tag halten, und du bist damit jederzeit aktionsbereit, um die Wirbelsäulenstabilität schnell zu erhöhen. Diese Hintergrundstabilisierung ermöglicht es dem Körper, seine reflexartige Wirbelsäulenstabilisierung zu optimieren, die du jetzt fest verdrahtet hast. Anstatt die Verankerungssequenz erst in Sekundenschnelle durchführen zu müssen, bist du schon in Aktion. Du musst lediglich die 20 Prozent auf 100 Prozent erhöhen. Im Prinzip funktioniert dies wie beim Autofahren: Es ist viel effizienter, von Tempo 30 auf 100 zu beschleunigen als von 0 auf 100.
Eine konstante Bauchmuskelspannung von 20 Prozent verleiht dir Durchhaltevermögen, sodass du steigern kannst, wenn die nächste Bewegung mehr Spannung fordert. Die meisten von uns können gut mehrere Sekunden lang die Spannung halten, wenn sie wissen, was auf sie zukommt. Leider funktioniert die Welt aber so nicht. Ziel ist eine fortlaufende Stabilisierung, die nicht dauernd Aufmerksamkeit benötigt. Du musst in der Lage sein, schnell ins Kinderbett zu greifen und dein schreiendes Baby herauszuheben, ohne erst deine Wirbelsäule in die Neutralstellung ausrichten zu müssen.
Dein Rücken-Stabilisationsprogramm sollte dir immer Schutz geben. Es erscheint etwas ungerecht, dass du eine gute Rückenhygiene erst lernen musst. Doch wie beim Zähneputzen wirst du irgendwann auch darüber nicht mehr nachdenken. Sich gut zu bewegen ist eine Fertigkeit, die man leicht üben kann, aber wie jede neue Fertigkeit dauert es, bevor sie in Fleisch und Blut übergeht.
Wir wollen dich nicht anlügen
Eine standardmäßige Bauchspannung herzustellen und zu halten sieht am Anfang nach Arbeit aus. Du aktivierst Muskeln und Gewebesysteme, die vielleicht schon Jahre im Dornröschenschlaf schlummern. Doch bald wirst du das mit etwas Übung instinktiv machen. Wie lange brauchst du dazu? Das hängt davon ab: Manch einer beherrscht es innerhalb einer Woche, bei anderen dauert es Monate. Im Endeffekt brauchst du einen schlüssigen, reproduktionsfähigen Plan dafür, den Rumpf zu stabilisieren. Wenn du Yoga oder Pilates kennst, weisst du, dass schon andere die Wichtigkeit dieser Rumpfstabilisierung erkannt und Techniken dafür entwickelt haben, sie zu unterrichten.
Nachdem du nun ausprobiert hast, wie es sich anfühlt, die Körperspannung für Routinetätigkeiten herzustellen, sehen wir uns an, wie es ist, die maximale Spannung zu produzieren. Für diese Übung stelle dir bitte vor, dass jemand über dir steht und gerade eine Bowlingkugel auf deinen Bauch fallen lässt. Was passiert wohl, wenn dein Rumpf dabei entspannt und der Bauch voller Luft ist? Nicht sehr hübsch, oder? Um den Aufprall der Bowlingkugel abzufedern, musst du ganz schnell alle Luft loswerden und gleichzeitig den Rumpf auf 100 Prozent Spannung bringen.
Rasch zeigt sich, dass bei 100 Prozent Spannung die Bauchatmung viel schwieriger ist als bei 20 Prozent. Das ist der Punkt: Du hast sozusagen ein Korsett um die Wirbelsäule gelegt. Wenn du versuchst, den Weltrekord im Gewichtheben zu brechen, musst du während der Bewegung nicht atmen. Genauso wenig musst du im Moment des Aufpralls atmen, wenn dir jemand einen Magenschwinger verpassen will. Du musst vielmehr um deine Körpermitte herum so viel Spannung wie möglich aufbauen, um die Wirbelsäule vor dem Schlag zu schützen.
Schwierig an der Sache ist es, zwischen maximaler Anspannung und Entlastung zu wechseln und gleichzeitig die neutrale Wirbelsäulenstellung und die Bauchatmung beizubehalten sowie die unterschiedlich benötigte Anspannung zu bemessen. Selbst Kobras breiten ihren Nackenschild nicht ständig aus. Wie viel Rumpfspannung erfordert ein Fünf-Kilometer-Lauf? Mehr als nur zum Briefkasten zu gehen, aber weniger als zum Aufheben einer schweren Kiste. Selbst manche unserer Spitzenathleten können nicht gleichzeitig stabilisieren und atmen. Kennst du die Kraftmenschen in der untersten Reihe einer Menschenpyramide? Sie balancieren die Last vieler Artisten und atmen gleichzeitig. Das kannst du vielleicht noch nicht: bei maximaler Belastung die maximale Rumpffestigkeit zu halten und dennoch zu atmen.
Wir haben hier einiges abgedeckt, daher eine kurze Zusammenfassung: Deine Gesäßmuskeln richten dein Becken zur Lendenwirbelsäule und dem Brustkorb aus (und bringen so die Wirbelsäule in Neutralstellung). Du verankerst alles an seinem Platz (oder stabilisieren die Haltung) durch Einsatz der Bauchmuskeln. Einfach, oder? Bevor du jetzt aber in deinerfunkelnagelneuen Haltung vor die Tür gehst, musst du noch ein weiteres Element berücksichtigen: wie du damit atmest.
Stabiler Rücken beim Atmen
Wenn man nicht weiß, wie man gleichzeitig die Wirbelsäule verankert und atmet, entscheidet man sich oft für eines von beiden: entweder durch Anhalten der Luft die Wirbelsäule zu stabilisieren oder die Wirbelsäulenstabilität zu opfern und zu atmen. Hier gibt es eine bessere Alternative. Lege dich auf den Rücken, spanne für die Beckenausrichtung die Gesäßmuskeln an und aktiviere die Bauchmuskeln mit 20 Prozent Rumpfspannung. Lege eine Hand auf den Bauch und die andere auf die Brust. Atme mit der Vorstellung, Luft in den Bauch und nicht so sehr in den Brustraum zu ziehen. Die Hand auf dem Bauch bewegt sich auf und ab, nicht die Hand auf der Brust. Diese Aufgabe soll dir zeigen, dass du selbst mit aktivierten Bauchmuskeln durchaus über den Bauch atmen kannst. Nur weil die Bauchmuskeln leicht angespannt sind, heißt das nicht, dass sie sich nicht auch ausdehnen und kontrahieren können. Falls nun mehr Rumpfspannung benötigt wird, bist du aktionsbereit. Du musst nur etwas Luft ablassen und gleichzeitig die Rumpfspannung erhöhen.
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Diese einfache Übung lässt sich sogar für olympische Gewichtheber durchführen. Ein Tipp, den wir unseren Schwerkraftathleten mitgeben, ist, vor der Hebeübung den Bauch mit Luft zu füllen – denn je höher der Druck im Bauchraum, desto stabiler die Wirbelsäule. Viele Athleten machen das allerdings falsch und blasen den Bauch auf, ohne vorher den Rumpf durch Anspannen fest zu verankern. Teste es selbst: Atme tief in den entspannten Bauch und versuche dann, den Rumpf um dieses Luftkissen herum zu festigen. Es geht einfach nicht. Erst muss das Rumpfgewebe zum stahlharten Zylinder werden. Dann füllst du in diesen begrenzten Raum so viel Luft wie möglich ein. Das ist die Strategie, um schwer heben zu können. Zunächst erscheinen diese Übungssequenzen mühsam. Die Zwerchfellatmung bei angespanntem Rumpf zu lernen ist jedoch eine entscheidende Komponente der Verankerungssequenz. Erst wenn du durch Anspannen der Bauchmuskeln den Raum um die Wirbelsäule herum so klein wie möglich schrumpfst, kannst du den Rücken stabilisieren. Rumpf und Zwerchfell sind vorbereitet. Sobald du das Verhältnis von Becken und Lendenwirbelsäule durch das Anspannen der Gesäßmuskeln korrigierst, kann sogar der Beckenboden als untere Basis des Rumpfatmungssystems agieren.
Euer Dr. Kelly Starrett
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